Warum ruft das Impfen bei so vielen Menschen – und gerade bei uns Deutschen – so große Angst hervor. Ich finde es eine spannende und wichtige Frage, die es zu beantworten gilt. Die amerikanische Sachbuch-Autorin Eula Biss hat sich in ihrem Buch Über das Impfen daran gemacht, diese Frage zu beantworten.
Es muss ja Antworten geben. In den USA war – und ist – der Widerstand gegen das Impfen groß und in den deutschsprachigen Ländern eben auch. Was ich bisher mitgekriegt habe, spielt zumindest hier in Mitteleuropa die (geistige Verwirrung durch) Anthroposophie (Homöopathie, Jesus, Rudolf Steiner, Walddorfpädagogik usw.) eine Rolle, die sich eindeutig gegen die Moderne und die Erkenntnisse der Evolutionstheorie und damit gegen die moderne Medizin richtet. Da die USA ebenfalls ein sehr religiöses Land sind und einem rückständigen Religionsverständnis mit ihren neoapostolischen Sekten frönen, scheint es auch hier einen gewissen Widerstand gegen die Moderne zu geben. Obwohl es dort eher als Widerstand gegen den Staat, gegen staatliche Autoritäten (Land of the free) daherkommt.
Schlimm ist der “Irrglaube an eine natürliche Immunität des Körpers“. Ein kleiner Blick in die Geschichte der Menschheit könnte einiges Klarstellen. Denken wir nur an die Infektionskrankheiten, die die europäischen Eroberer auf den amerikanischen Kontinent brachten und die ganze Bevölkerungen töteten. Dabei sollte diese “Indianer” ja ein sehr natürliches und starken Immunsysten gehabt haben.
Auch die Geschichte der Pest oder die Entwicklung der Impfstoffe geben Auskunft darüber, wie es sich mit Impfstoffen und dem Immunsystem tatsächlich verhält. Ich erinnere mich noch an Kinder, die Polio – Kinderlähmung – gehabt haben und ihr ganzes Leben behindert blieben. Diese Krankheit hat Dank einer weltweiten Impfkampagne zumindest bei uns keine Macht mehr.
All da und noch viel mehr, sollte eigentlich dazu führen, dass eine eventuelle und generelle Angst vorm Impfen abnimmt. Und das hat es sich auch. Aber eben nicht bei allen.
Eula Bliss hat sich diese ganze Sache mal in Ruhe angeschaut und ein lesenswertes Buch darüber geschreben.
Warum ruft das Impfen Angst hervor?
Eula Biss geht dem Phänomen der Impfparanoia auf den Grund. Indem sich die junge Mutter in die Position der Impfgegner einfühlt, lässt sie uns verstehen, wie deren Irrglaube an eine umfassende natürliche Immunität des Körpers so stark werden konnte. Dabei tastet sich Eula Biss vorsichtig voran. Sie verwebt Exkurse in die Medizin- und Wissenschaftsgeschichte sowie autobiographische Bekenntnisse auf elegante Weise zu einem Buch, das die hitzige Impfdebatte abkühlen und auf ein neues Niveau heben wird.
Eula Biss lehrt Nonfiction Writing an der Northwestern University von Illinois. Für ihr Buch Notes from no Man’s Land erhielt sie 2009 den National Book Critics Circle Award. Biss war u. a. Stipendiatin der Guggenheim und der Howard Foundation. Sie gewann außerdem den 21st Century Award der Chicago Public Library Foundation. Zuletzt erschien bei Hanser ihr Buch Was wir haben. Über Besitz, Kapitalismus und den Wert der Dinge. Biss lebt in Chicago.
In jeder Hinsicht das Buch der Stunde. Es hilft zu verstehen, warum die Emotionen gerade bei diesem Stichwort hochkochen wie sonst nur in Familiendingen.
Peter Richter, Süddeutsche Zeitung
Desinformation, Ideologie und Unwissen
Eula Biss schreibt natürlich über das, was sie in den USA sieht. Das ist teilweise etwas anders, als bei uns. Dennoch sind die Mechanismen der Impfgegnerschaft gleich. Wenn man diesen Abschnitt liest, fragt man sich unwillkürlich wie es sein kann, dass sich fachfremde Menschen, also MitbürgerInnen, die keine medizinische Ausbildung haben und keine Wissenschaftler sind, so klare Meinungen über bestimmte Impfungen anmaßen können.
Die Briten nennen eine Impfung umgangssprachlich »ajab« – ein Begriff aus der Welt des Boxens, wo der »jab« ein kurzer, gerader Faustschlag ist –, bei den US-Amerikanern mit ihrer Vorliebe für Schusswaffen heißt sie »a shot«. So oder so : Impfen ist etwas Gewalttätiges. Und wenn eine Impfung eine durch Geschlechtsverkehr übertragene Erkrankung verhindern soll, scheint sie fast selbst zu einem Sexualdelikt zu werden.
Michele Bachmann, damals Präsidentschaftskandidatin der Republikaner, warnte 2011 vor den »verheerenden Auswirkungen« des Impfstoffs gegen humane Papillomaviren und vertrat die Ansicht, es sei »falsch, unschuldige kleine zwölfjährige Mädchen dazu zu zwingen, von der Regierung eine Injektion zu bekommen«. Ihr Gegenkandidat Rick Santorum pflichtete ihr bei – es sei nicht zweckdienlich, »kleine Mädchen gewaltsam und unter staatlichem Zwang impfen zu lassen«. Der Impfstoff, so hatten sich bereits einige Eltern beschwert, sei »für Mädchen in diesem zarten Alter nicht angemessen«, andere fürchteten, die Impfung würde der Promiskuität Tür und Tor öffnen.
Ist das nicht fruchtbar? Sollten diese Ansichten uns nicht Angst machen?
Paranoia ist tendenziell ansteckend
Die Autorin ist keine Wissenschaftlerin und schreibt auch nicht so. Das Buch ist daher nicht strukturiert, wie wir es von informativen Sachbüchern erwarten. Es ist also eher ein Essay, ein Bericht, eine Zusammenfassung und umfassende Beleuchtung der Problematiken um das Impfen. Diese sind vielfältig, zuweilen psychologisch, manchmal geschichtlich und allzu menschlich.
Bei aller gebotenen Skepsis in Bezug auf das Impfen, die Wissenschaft ausräumen und Vertrauen überwinden kann, sind sehr viele Ansichten gegen die Impfmedizin vollkommen Irrational. Biss beweist dies in ihrem Buch.
Die Angst vor der Kontamination beruht auf dem in unserer wie auch in anderen Kulturen weit verbreiteten Glauben, dass durch Kontakt ein Wesenskern übertragen werden kann. Der Kontakt mit einem Schadstoff, so denken wir, schädigt uns ein für alle Mal.
Das Buch geht natürlich auch auf die Verschwörungstheorien um die Impfstoffe ein, die wir hier nicht weiter wiedergeben wollen. Aber es schlägt auch den geschichtlichen Bogen, wie die Impfmedizin entstanden ist und wie sie sich entwickelt hat. Und die Autorin berichtet aus ihrer eigenen Familie und ihrer Erfahrung mit der modernen Medizin und Impfkampagnen.
Fazit
Das gutes, ein wichtiges Buch. Nur leider werden es gerade diejenigen nicht lesen, die vor allem die Corona-Impfung grundsätzlich ablehnen. Aber gerade sie würden von dieser Streitschrift profitieren. Sie könnten sich selber besser verstehen, bestimmte Dinge und Ansichten anders einordnen und vielleicht die eine oder andere Irrationalität in Bezug auf das Impfen aufgeben.
Das Buch ist sehr gut geschrieben, voller Hintergrundinformationen und auch persönlicher Erfahrungen. Wer mehr über dieses Thema verstehen möchte, ist mit diesem tollen Buch bestens versorgt.
Über das Impfen – Von Zweifel, Angst und Verantwortung
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von Eula Biss (aus dem Englischen von Kirsten Riesselmann)
240 Seiten, Ullstein Taschenbuch (10. März 2022)
ISBN 354806735
Taschenbuch 11,99 Euro