Auf dem Höhepunkt der Coronakrise besuchten wie die weltberühmte Herbertstraße auf St. Pauli. So etwas hatte das Hamburger Hafenviertel noch nie gesehen: eine vollständig ausgestorbene Herbertstraße. Keine Prostituierte nirgends. Die Tore sperrangelweit offen, keine Menschenseelen zu sehen. Kein Tourist, keine betrunkenen Freier, keine Reinemachkräfte, keine Zuhälter, nix. Die Straße war völlig verwaist und selbst wir Hamburger haben so etwas noch nie zuvor gesehen.
Wir kamen zufällig vorbei an diesem Ostermontag, den 13. April 2020. Eigentlich wollten wir die leere Reeperbahn fotografieren, da ich am Tag zuvor meinen Augen nicht trauen wollte, als ich mit meinem Roller am oberen Ende der “sündigsten Meile der Welt” an die U-Bahn St. Pauli stand und in einer vollkommen leere Reeperbahn starrte. Wo sich sonst auch am Ostermontag, ob vormittags, mittags, nachmittags oder nachts Touristenströme, Penner, Fussballfenster, Party-People, Theatergäste, Feierwütige, Spaziergänge, Hamburg-Besucher, schwere Jungs und leichte Mädchen, Anwohner und Polizisten tummeln, ist es beinahe wie ausgestorben. Vereinzelte Autos, einige Radfahrer, weniger Fußgänger. Haste noch nicht gesehen.
Uns Hamburger verunsichert das tief, jetzt begreifen wir, das etwas nicht stimmt, das da etwas Schlimmes geschieht. Wir haben so etwas noch nie gesehen und erstarren fast über Schreck und gleichzeitiger Faszination.
Ein silberner Flitzer quert die Kreuzung am Eingang der Reeperbahn. Das Foto entsteht spontan. Die rote Ampel steht auf der Verkehrsinsel auf der sich der Südeingang der U-Bahn-Sankt-Pauli befindet. Auch eine Bushaltestelle befindet sich hier. Normalerweise ist hier immer was los. Vielleicht gibt es so etwas mal am Montagmorgen, aber den sehr frühen morgen. Aber eigentlich nicht. Irgendwer ist hier immer, meistens sind es mehr Menschen, als man erwartet. Mindestens aber Obdachlose und Trinker. Aber jetzt in der Coronakrise ist niemand mehr da.
Streifzug durch St. Pauli in der Coronakrise: Vom Hein-Köllisch-Platz bis zur Herbertstraße
Wir entschlossen uns, am Hans-Albers-Platz, der krassesten Feierhölle auf St. Pauli, anzufangen. Auch hier ein beängstigendes Bild. Als wäre nie etwas Böses hier geschehen, der dörfliche anmutende Platz liegt in Frieden im schönsten Aprilwetter vor uns. Bilder dazu in einem anderen Beitrag.
Von dort über die Silbersackstraße auf den Hein-Köllisch-Platz, der das wohnliche und charmante St. Pauli repräsentiert. Hier war zwar mehr Leben als auf der Reeperbahn und dem Hans-Albers-Platz, aber alle Bars, Restaurants und Café hatten geschlossen. Die Bürger konnten froh sein, dass der Corona-April so herrliches Frühlingswetter für sie bereit hielt, so dass sie viel Zeit draußen verbringen konnten.
Von dort aus inspizierten wir den Park Fiction, den Pudel-Club und den wunderschönen Blick über den Hamburger Hafen bis hinab zur Elbphilharmonie. Auch dieses Bild erschreckend: Der Hafen ist beinahe leer. Kaum ein Schiff schaukelt über die Elbe, keine Touristen verstopfen die Wege, der Verkehr an Land und auf der Wasserstraße ist praktisch kaum der Rede wert. In dem kleinen Antonipark vor dem geschlossenen Restaurant-Café Salt & Silver haben sich ein paar wenige Anwohner verirrt, die hier ein Schwätzchen halten oder die Sonne genießen.
Der wundervoll gelegene Antonipark oberhalb der Hamburger Hafenstraße und des goldenen Pudels gibt den Blick frei auf den Hamburger Hafen. Der Motor der Stadt scheint stillzustehen. Kaum Schiffe auf der Elbe, keine Boote, keine Frachter, keine Schlepper. Leer wie der Park in dem wir stehen und das wundervolle Frühlingswetter genießen. Es ist eine ungewöhnliche Zeit, dieser Lockdown in der Coronakrise 2020. Wir dokumentieren die Lage und sind immer wieder sehr überrascht über das, was sich da vor unseren Augen auftut.
Die einzigen, die stabil durchhalten, scheinen die Drogenhändler auf St. Pauli zu sein. Sie säumen auf der Bernhard-Nocht-Straße an der Hafentreppe und der Balduinstraße die Straßenränder und prüfen jeden Spaziergänger ob er vielleicht Kunde ist oder werden will. Was sollen sie anderes machen? Zumeist nur geduldet dürfen sie keiner Arbeit nachgehen und haben nicht genug Geld, um …
Endlich biegen wir in die Davidstraße ein. Es ist nicht einfach, diese Bilder mit unserem Staunen zu verarbeiten. Seit es diesen Stadtteil der Rebellen und Ausgestossenen gibt, seit vielen Hundert Jahren, hat man so etwas noch nicht gesehen. Ein flachgelegtes St. Pauli! Stilgelegt, befriedet, aufgeräumt, entleert, vereinsamt, downgechillt, ausgeknockt. Möglicherweise gab es solche Szenen hier zu den wenigen Kriegszeiten, die Hamburger erlebte, zu sehen gewesen. Aber unsere Generation haben so etwas noch nie gesehen. Und deshalb erzählen wir davon – in Worten und Bildern.
Bildergalerie der verlassenen Herbertstraße
Fotos: Andrea Kueppers, Hamburg, April 2020